Kürzlich war ich bei meinen Eltern zu Hause und wühlte in den Unterlagen meiner Schulzeit. Mir fiel eine Ausgabe einer Schülerzeitung in die Hände, bei der ich mitgewirkt hatte. Darin befand sich ein längeres Dossier über Drogen, in dem der damals drogenbeauftragte Lehrer der Schule interviewt worden war. Eine seiner Aussagen hat mich länger beschäftigt. Am Ende des Interviews sagte er: „Drogen sind doch nur was für labile Typen. Und ihr seid doch keine labilen Typen!“ Die Sätze wirken auf mich sehr unbeholfen. Der Lehrer wollte uns ermutigen, keine Drogen zu nehmen, indem er Drogenkonsum als Schwäche abkanzelte. Oberflächlich betrachtet mag dies der Fall sein, wenn man sich vorstellt, dass Menschen den Versuchungen der Drogen nicht widerstehen können.
Drogen als Typsache?
Aber handelt es sich bei Menschen, die Drogen konsumieren, wirklich um labile Typen? Oder wird ihnen diese Eigenschaft nur zugeschrieben, weil man sich Sucht nicht anders erklären kann? Ich denke an eine meiner Klientinnen, die längere Zeit abhängig war. Sie hat eine vielschichtige Lebensgeschichte hinter sich. Und vor allem hat sie eines: überlebt. Und zwar nicht nur die Zeit des Drogenkonsums, sondern vor allem die Zeit davor als Kind und Jugendliche, als sie psychischer und körperlicher Gewalt in ihrer Familie ausgesetzt war. Ein fundamentaler Teil ihres Lebens war also vom Aus- und Durchhalten geprägt – Fähigkeiten, die ich nicht mit labilen Typen in Verbindung bringe.
Oder Reaktion auf Umweltanforderungen?
Doch wie passt der Drogenkonsum und die damit einhergehende Sucht dazu? Die Systemische Therapie betrachtet Drogenkonsum und Sucht als Reaktionen auf Umweltanforderungen. Sie werden als Lösungsversuche gesehen, mit belastenden Situationen und Erfahrungen umzugehen. Es handelt sich häufig um Strategien, die Jugendliche und junge Erwachsene von ihren Eltern kennen. Liegen wie bei meiner Klientin traumatisierende Erfahrungen vor, so können Drogen ein Mittel sein, negative Gefühle und Erinnerungen erst einmal wegzudrücken. Natürlich sind sie keine wirklichen langfristigen und nachhaltigen Lösungen. Menschen nehmen dabei potenzielle ernsthafte körperliche und psychische Schäden inkauf und die traumatisierenden Erinnerungen werden damit nicht beseitigt.
Ich halte es dennoch für kontraproduktiv, Menschen deshalb als labil oder krank abzustempeln. Man spricht ihnen damit Eigenverantwortung und die Fähigkeit ab, für sich selbst zu sorgen und Lösungen zu finden. Diese brauchen sie aber, um erstens einen Weg aus der Abhängigkeit zu finden und zweitens ihre Erfahrungen und deren Folgen zu verarbeiten. Aus diesem Grund ist es meiner Meinung nach wichtig, sie als stabil im Sinne von widerstandsfähig und kompetent wahrzunehmen, indem man ihre Geschichten und Lösungsversuche würdigt sowie sie darin bestärkt, einen anderen Umgang mit negativen Gefühlen, Erfahrungen und Erinnerungen zu finden.
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