Weihnachten steht vor der Tür. Ein Fest, das nicht nur von der Werbeindustrie zu einem Fest der Liebe stilisiert wird: Weihnachtswünsche von Freund*innen und Familie oder Appelle gesellschaftlicher Akteur*innen zeichnen ein Bild der Festtage als Zeit der Ruhe, Gelassenheit und menschlichen Zuneigung. Zweifelsfrei gehört all das dazu und dennoch bergen gerade Nähe und emotional aufgeladene Zeiten das Potenzial für die Eskalation von Konflikten. Regelmäßig warnen Polizei und Opferhilfsorganisationen vor der Zunahme häuslicher Gewalt über die Feiertage.
Forschung zu Gewalt von Frauen im häuslichen Umfeld
In den letzten Jahren hat das Thema Gewalt in diesem Zusammenhang medial vermehrt Aufmerksamkeit erfahren. In Reportagen und Podcasts wird von Männern berichtet, die von ihren (Ex-)Partnerinnen sozial isoliert, finanziell abhängig, erniedrigt, beschimpft und körperlich teils stark verletzt wurden. Maskulist*innen beklagen im Netz, dass männliche Opfer häuslicher Gewalt nicht gesehen und versorgt werden. Dabei schwingt nicht selten der Vorwurf mit, Statistiken seien feministische Propagandainstrumente, weil sie Männer zu den Haupttätern häuslicher Gewalt deklarieren. Frauen würden gleichermaßen häusliche Gewalt ausüben.
Was sagen die Zahlen und die Praxis?
Bei häuslicher Gewalt unterscheiden wir grob in situative Gewalt, die aus Konflikten ungeplant und impulsiv entsteht und systematischer Gewalt, die zielgerichtet, erwünscht, geplant und meist einseitig stattfindet. Die Auswertung einer Schweizer Polizeistatistik aus dem Jahr 2021 weist darauf hin, dass Frauen vor allem situative Gewalt ausüben. Hier machen sie einen Anteil von 24% aller gemeldeten Fälle aus. Hinsichtlich systematischer Gewalt werden nur 2,7% Frauen als Beschuldigte gemeldet. Für Mord und Totschlag gerieten bei 19% der Fälle Frauen polizeilich in den Fokus und für Freiheitsberaubung sowie Stalking 12%. Wegen Bedrohung wurden bei der Polizei 10% Frauen angezeigt und für sexuelle Übergriffe, Nötigung und Vergewaltigung 1,6%.
Laut der deutschen Strafvollzugsstatistik 2021 sind 3,6% der Verurteilten in allen oben genannten Delikten Frauen. Es ergibt sich in den Hellfeldstudien ungefähr ein Verhältnis zwischen 1/4 bis 1/5 weiblicher und 3/4 bzw. 4/5 männlicher bekannter Gewaltausübung im häuslichen Umfeld. Was Gewalt gegenüber Kindern betrifft, so sind hier laut der Schweizer Polizeistatistik 72,4% Männer und 27,6% Frauen Täter*innen. Für Kindesmisshandlung sind laut Polizeistatistik ca. 45% Frauen verantwortlich, bei elterlichen Kindestötungen ca. 50% (bei Frauen häufiger ein erweiterter Suizid). Das Töten Neugeborener (Neonatizide) verüben statistisch fast ausschließlich Frauen.
Im Kontakt mit beschuldigten Frauen in meiner Arbeit differenziert sich das Bild der Gewaltaktivität weiter aus – was übrigens ebenso auf die männlichen Klienten zutrifft. So werden beispielsweise Frauen von der Polizei gemeldet, die im Streit ihre Kinder bzw. Partner*innen körperlich angehen oder Gegenstände nach ihnen werfen. Häufiger kommt es auch vor, dass beide Partner*innen von der Polizei gemeldet werden, d. h. gegenseitig Gewalt ausgeübt wird. Darüber hinaus stellt sich bei einigen Fällen im Nachhinein heraus, dass Frauen Gewalt angewendet haben, um sich vor der Gewalt des Partners zu schützen. Selten kommt es zu weiblicher Revenge Violence, bei der Frauen sich aufgrund von längerer systematischer Gewalterfahrung an ihrem Partner rächen.
Was bleibt?
Es gibt also – und das ist der entscheidende Punkt – bei Frauen ebenso wie bei Männern eine erhebliche Bandbreite an ausgeübter Gewalt. Die Frage, ob nun genausoviele Frauen wie Männer tätlich werden, die in der Regel zu wenig mehr als einer bloßen Aufrechnung statistischer Werte führt, lenkt meiner Meinung nach vom Entscheidenden ab: der Frage, was die Ursachen sind und wie Prävention und Opferschutz betrieben werden können. Dafür bedarf es Differenzierung mehr als alles andere. Extremfälle wie in Podcasts und Reportagen lanciert sorgen für mediale Aufmerksamkeit, aber schaffen letztlich nur ein Zerrbild, weil dadurch nur der kleine Teil von Gewalt in den Fokus gerät. Sinnvoller wäre es, auch stärker über situative sowie gegenseitige partnerschaftliche Gewalt zu sprechen, da diese sehr viel häufiger (auch vor den Augen oder gegenüber von Kindern) passiert. Die gesellschaftliche Wahrnehmung dafür, dass Gewalt auf unterschiedlichen Ebenen (z.B. physisch, psychisch, ökonomisch, sozial) stattfindet, stellt einen wichtigen Aspekt der Präventionsarbeit dar. Je mehr z.B. Ärzt*innen, Lehrkräfte, Erzieher*innen, Menschen aus dem Umfeld wie auch die Täter*innen selbst sensibilisiert sind, desto mehr können Fälle häuslicher Gewalt aufgedeckt, angezeigt oder verhindert werden. In diesem Sinne plädiere ich dafür, wachsam zu bleiben und ein Auge für jegliche Gewalt im häuslichen Umfeld zu haben – egal ob sie von Männern, Frauen oder beiden ausgübt bzw. initiiert wird.
An wen kann ich mich wenden?
Informationen der Polizei für Opfer häuslicher Gewalt
Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen: 0800 0116016
Hilfetelefon Gewalt an Männern: 0800 1239900
Nummer gegen Kummer (für Kinder und Jugendliche): 116 111
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