LIEBE, DIE ENDEN DARF

Nov 25, 2022

 

 

Liebe stellt ein hohes menschliches Gut dar.  In seinem Buch Die Kunst des Liebens, beschreibt der Philosoph und Psychoanalytiker Erich Fromm, dass Liebe mit dem Bedürfnis des Menschen zusammenhängt, seine „Abgetrenntheit zu überwinden“  und „aus dem Gefängis der Einsamkeit herauszukommen“. So verstanden hat das Gefühl der Liebe also viel mit der Angst vor dem Alleinsein zu tun. Umso verständlicher ist es, dass wir uns alle wünschen, dass die Liebe ewig anhält.

 

Unendliche Liebe

Es überrascht vielleicht nicht, dass sich unser Wunsch nach andauernder Liebe kaum irgendwo sichtbarer zeigt als in unserer Popkultur. Insbesondere Liebeslieder erlauben aufgrund der häufig expliziten Sprache einen guten Blick auf den Umgang mit Liebe. Die mit der Sehnsucht verbundene Unsicherheit wird in den Texten häufig zu einer Gewissheit der Dauer und Zeitlosigkeit gewendet:  So beschreibt etwa Mark Forster Liebe als Blick in die Zukunft von der abenteuerlichen Jugendzeit bis ins hohe Alter:

„Ich seh‘ uns pennen in ’nem Zelt / Am letzten Ende der Welt / Uns verändern und altern / Unsre Hände mit Falten.“

Ähnlich klingt es in dem Lied  This magic moment von den Drifters aus dem Jahr 1960, in dem der Zustand der Verbundenheit für immer währt:

„This magic moment / While your lips are close to mine / Would last forever / Forever ‚til the end of time.“

Eine Vielzahl von Liebesliedern widmen sich auch dem Schmerz der Trennung, ohne notwendigerweise die Vorstellung einer unendlichen Liebe aufzugeben.

We both know that I’m not what you need“ singt Whitney Houston  – eine unmögliche Liebe – und dennoch weiß und verspricht sie „I will always love you“. Die Liebe dauert in unserer Vorstellung nicht nur ewig an, sondern übersteht die schlimmsten Ereignisse, Krisen und Katastrophen – sogar dann, wenn die betroffenen Menschen nicht das Gleiche empfinden oder gar nicht mehr da sind. So besingt Celine Dion im Titeltrack zum Blockbuster Titanic den festen Glauben an bedingungslose Liebe, die über den Tod hinaus reicht:

„Near, far, wherever you are / I believe that the heart does go on“.

Neben der Popmusik wird die Vorstellung einer unendlichen Liebe auch aus naheliegenden Gründen im Ritus der Eheschließung reproduziert, beispielsweise in Trausprüchen. Auf der Website www.evangelisch.de wird das Bibelzitat „Die Liebe hört niemals auf.“ (Korinther 13,8) als Trauspruch angeboten. Zu finden ist er auch auf zahlreichen Hochzeitsgeschenkartikeln.

Doch woher nehmen Künstler*innen, Trauexpert*innen und Filmemacher*innen die Gewissheit, dass Liebe ewig hält? Wenn Menschen sich im Laufe ihres Lebens verändern, wie Mark Forster es beschreibt, kann auch die Sinnhaftigkeit der Verbundenheit infragegestellt werden. Und wer weiß schon, wie sich die Beziehung zwischen Rose und Jack entwickelt hätte, wenn letzterer überlebt hätte. Die beiden kannten sich schließlich nur sehr kurz. Wäre es nicht ehrlicher zuzugeben, dass es sich dabei nicht um eine Gewissheit über die Zukunft, sondern einen Wunsch der Gegenwart handelt? Müsste Whitney Houston nicht eher singen „It feels like I will always love you“? Und sollten wir Paaren nicht wünschen, dass sie sich möglichst lange lieben können?

 

Entgrenzte Liebe

Liebe wird aber nicht nur zeitlich, sondern auch hinsichtlich schmerzvoller Erfahrungen als grenzenlos dargestellt. Ansätze zur Entgrenzung finden wir bereits in Romanen, die von starken Frauenfiguren erzählen, wie zum Beispiel im aktuellen Bestseller Der Gesang der Flusskrebse von Delia Owens. Der Roman handelt von dem einsamen Leben eines jungen Mädchens in den Marschgebieten von North Carolina. Die Protagonistin Kya erfährt von ihrem Vater Gewalt in Form von Vernachlässigung bis hin zu körperlicher und psychischer Gewalt. Ihr vertrauter Freund Tate aus Kindertagen, den sie liebt, hat sie für sein Studium im Stich gelassen und sich entgegen seiner Versprechungen längere Zeit nicht bei ihr gemeldet. Daraufhin geht sie eine Beziehung mit Chase ein, der ihr vorgaukelt, sie zu heiraten, sie aber nur (sexuell) ausnutzt und letztlich versucht, sie zu vergewaltigen. Sie hat extreme Erfahrungen mit Liebe und Zuneigung gemacht. Trotz der unguten Vorzeichen hat die Geschichte aber ein Happy End: Kya verzeiht Tate und sie werden schlussendlich ein Paar. Die Voraussetzung dafür liegt in der Person Tates, der in der Darstellung der Autorin der einzige ist, der das Mädchen aus der Wildnis wirklich versteht und liebt.

Sarkastisch gewendet, hätte die Erzählung auch anders erzählt werden können, indem Kya vor dem Hintergrund ihrer Erfahrung vielleicht keine andere Möglichkeit gesehen hat, dem Gefängis der Einsamkeit zu entrinnen, als sich wieder auf die alte Liebe einzulassen. Er war eben zum richtigen Zeitpunkt für sie da.

Der Roman zeigt hingegen, dass die Darstellung grenzenloser und belastbarer Liebe überzeugender ist. Sie stillt unser Bedürfnis nach Bedeutsamkeit. Vielleicht gefällt die Geschichte auch deshalb, weil wir in unserem Inneren wünschen, dass gerade oder sogar für Menschen wie Kya unendliche Liebe möglich ist? 

Der Wunsch, dass am Ende alles gut wird, ist verständlich und wertvoll. Aber was heißt dieses „gut“ eigentlich und wie lange sollten wir darauf warten? Was wollen wir dafür inkauf nehmen? Wer garantiert uns, dass dieses Ende gut wird? Lieben wir nur richtig, wenn wir aushalten, ertragen und hoffen? Zumindest empfiehlt uns dies ein anderer Trauspruch:

„Die Liebe erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand. Die Liebe hält alles aus.“ (Korinther 13,7).

Grenzen

Mit dem Wissen oder Versprechen einer bedingungslosen Liebe können im wahrsten Sinne gewaltige Konsequenzen einhergehen. Die Wiener Künstlerin Mascha hat in diesem Zusammenhang vor drei Jahren das Musikvideo Liebe siegt veröffentlicht, das in einem Spiel mit der populärkulturellen Idealisierung von Liebe zeigt, welche drastischen Folgen der Glaube an eine solche Liebe haben kann, wenn Gewalt in der Beziehung ausgeübt wird:

„Und wenn die Hand ab und zu mal ausrutscht, dann lächel ich halt in grün und blau / ohne ihn wäre mein Leben viel zu grau / Liebe siegt und wer nicht zustimmt, sollte welche erleben mal“.

Sie beschreibt die Vorstellung von einer Liebe, der man ausgeliefert ist, wenn man einmal von ihr befallen ist. Die Gesellschaft und die Kirche haben hier ebenso ihren Anteil:

„Und sie sagen / bleib doch, machs für die Kinder / und ich stimme zu / die Liebe ist kein Schwindler / die Familie ist heilig und die Liebe auch / und wenn es Gott nicht wollen würde / träge ich sie nicht im Bauch“.

Auch spricht sie die Hoffnung vieler Frauen an, dass sich doch noch etwas zum Guten wendet:

„Und wer keine Hoffnung hat, ist nicht mein Fall“.

Ihr Text erinnert frappierend an den oben zitierten Trauspruch, der von der Liebe erzählt, die alles erträgt, aushält und dabei noch hofft. Das Video von Mascha ist schwer zu ertragen. Gerade weil es so plakativ auf die Problematik einer entgrenzten Liebe hinweist, kann ich es mit einer Trigger-Warnung zum Thema Gewalt sehr empfehlen.

 

Ende?

Anlässlich des heutigen internationalen Tags gegen Gewalt gegen Frauen sollten wir reflektieren, woran wir mit dem Konsum populärer Kulturangebote, die die Vorstellung entgrenzter Liebe propagieren, eigentlich festhalten und welchen Preis wir gesellschaftlich dafür zahlen. Wir sollten besonders darüber nachdenken, was Liebe ist.

Fromm schlägt hier den Begriff der reifen, aktiven Liebe vor, bei der eine Vereinigung stattfindet, die die Integrität und Individualität des Einzelnen aber bewahrt. Liebe, die nicht nebulös für sich existiert, sondern klare Grenzen und Kriterien wie z.B. Wertschätzung, Achtung und Empathie hat. Liebe, die nicht einfach geschieht, sondern die wir bestimmen und mitgestalten können. Liebe, die enden darf. So wie Erich Fromm schreibt:

„Liebe ist eine Aktivität und kein passiver Affekt. Sie ist etwas, das man in sich entwickelt, nicht etwas, dem man verfällt.“

Felicitas Klingler

Felicitas Klingler

SYSTEMISCHE THERAPEUTIN

Geschlechtersensibles Arbeiten in therapeutischen Kontexten halte ich für sinnvoll, weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass Geschlechtervorstellungen auf unser Verhalten und unsere Weltsicht großen Einfluss haben.

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