Kürzlich kam eine Klientin zu mir, die sich fragte, ob sie jemandem verzeihen sollte. Ich stieß in diesem Zusammenhang auf folgendes Zitat, das von Gandhi stammen soll:
„Der Schwache kann nicht verzeihen. Verzeihen ist eine Eigenschaft des Starken.“
Auf den ersten Blick klingt das Zitat überzeugend. Wer verzeiht, ist stark und steht über dem*der Person, die ihr*ihm eine Verletzung zugefügt hat. Die Opferrolle kann dadurch überwunden und Selbstachtung wiederhergestellt werden. Es hat also viele Vorteile, zu verzeihen. Mich irritiert jedoch die Einseitigkeit der Aussage, weil sie all diejenigen, die nicht verzeihen können oder wollen, zu schwachen Personen macht.
Vorteile, nicht zu verzeihen
Ich frage mich, wozu es denn gut wäre, nicht zu verzeihen? Die Philosophin Susanne Boshammer beleuchtet in ihrem Buch „Die zweite Chance – Warum wir (nicht alles) verzeihen sollten“ das Für und Wider von Verzeihen. Unter anderem schreibt sie, dass Verzeihen eine (Gewissens-)Entlastung für den*die Verletzenden bedeuten kann. Wenn es jedoch keine Einsicht oder Unrechtsbewusstsein auf dieser Seite gibt bzw. das Verzeihen bewirken würde, dass die Tat als gebilligt angesehen würde, sollte dieses überdacht werden. Das Nicht-Verzeihen könnte beispielsweise vor erneuter Verletzung schützen sowie die Selbstachtung bestärken. Zugleich sollte reflektiert werden, ob das Verzeihen nur des Frieden willens vollzogen wird und man damit vorschnell die eigenen Grenzen ignoriert.
Christina Clemm gibt in ihrem Buch „AktenEinsicht – Geschichten von Frauen und Gewalt“ ein gutes Beispiel. Sie erzählt von einer Frau, die seitens ihres Vaters als Kind jahrelang sexuell missbraucht worden war. Als sie darüber sprechen konnte, war der Missbrauch bereits verjährt. Der Täter konnte als nicht mehr bestraft werden. Sie hat dann den Missbrauch im persönlichen Umfeld des Vaters öffentlich gemacht und sich damit ein Gefühl von Gerechtigkeit und Selbstachtung verschafft. Verziehen hat sie dem Vater nie, aber sie konnte auf diesem Weg damit abschließen. Die Frau hat Mut gezeigt, indem sie über das, was ihr Vater mit ihr tat, gesprochen und ihre Verletzungen offengelegt hat.
Beides als Stärke?
Das Nicht-Verzeihen kann ebenso wie das Verzeihen von menschlicher Stärke zeugen. Es ist also wichtig, unterschiedliche Lösungsansätze für sich auszuloten. Dabei geht es nicht nur darum, zwei Pole zu betrachten, sondern auch über Lösungswege dazwischen nachzudenken. Denn nur wer eine Wahl hat, kann sich auch entscheiden.
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