VON BORDERLINER*INNEN UND ANDEREN LINIEN

Jul 31, 2023

Der Film „Die Linie“

Im Mai startete  in deutschen Programmkinos der Film „Die Linie“ von der schweizerischen Regisseurin Ursula Meier. Der Film zeigt gewalttätiges Verhalten einer jungen Frau. Er beginnt mit einer Szene, bei der die Protagonistin Margaret ihre Mutter Christina so schlägt, dass diese einen Teil ihres Gehörs verliert. Daraufhin wird ein richterliches Näherungsverbot erlassen, so dass Margaret sich dem Haus ihrer Mutter in einem bestimmten Radius nicht mehr nähern darf. Ihre zwölfjährige Schwester Marion markiert diesen Radius mit einer weißen Linie.

Im Laufe des Films wird deutlich, dass Margaret große Probleme hat, ihre Gefühle zu kontrollieren. Ihre Beziehung scheiterte an eben dieser Impulsivität, die sie auch gegenüber ihrer Mutter zeigte. Die Wohnung ihres Ex-Partners, der sich trotz aller Vorfälle weiterhin um sie kümmert, darf sie nur noch betreten, wenn sie ihm zeigt, dass sie nicht wieder aggressiv geworden ist. Margaret verletzt nicht nur andere, sondern sie verhält sich selbst gegenüber gleichgültig und selbstgefährdend: ihre Wunden versorgt sie nicht ausreichend; an Weihnachten klettert sie auf das Dach eines Hauses, um ihrer Familie aus der Ferne zu winken. 

Die Zuschauenden können anhand der Darstellung nur erahnen, woher Margarets Verhalten kommen könnte: die Mutter Christina ließ ihre Kinder viel allein, vernachlässigte sie und übte psychische Gewalt aus. Grundlos machte die sie Margaret etwa für ihre misslungene Karriere als Pianistin verantwortlich und erklärt sie für musikalisch unfähig, obwohl Margaret am Ende des Films ein erfolgreiches Konzert gibt. Als die Mutter das gleiche Verhalten gegenüber der jüngeren Schwester an den Tag legt, reagiert die erwachsene Margaret mit Aggressivität und körperlicher Gewalt.

 

Die Verknüpfung von Gewalt mit Borderline

Im Interview mit der taz mit dem Titel „Wie ein weiblicher Cowboy“ erfährt man von der Regisseurin Ursula Meier mehr zu den Hintergründen des Films. Meier thematisiert bewusst das Tabu der Darstellung Gewalt ausübender Frauen im Film:

„An der gesellschaftlichen Konvention, dass Gewalt und Brutalität männlich konnotiert sind, lässt sich offenkundig schwer rütteln. Für Frauen gibt es da nur wenige Ausnahmen. Die müssen dann schon unter Drogeneinfluss stehen oder in aussichtslosen Schwierigkeiten stecken. Außer natürlich, sie sind schlicht hysterisch!“

Der Film setzt der üblichen weiblichen Opferstereotype einen Täterinnentyp entgegen. Was psychologisch geschulte Zuschauer*innen erahnen können, offenbart Meier schließlich im Interview: Margaret wird eine Borderline-Persönlichkeitsstörung (auch instabile Persönlichkeit) zugeschrieben und mit dementsprechend „typischen“ Verhaltensweisen ausgestattet. Dadurch, so die Regisseurin, hätte sich das Gewaltpotenzial der Protagonistin besser nachvollziehen und spielen lassen:

„Plötzlich hatten wir etwas Konkretes, wozu wir auch recherchieren konnten. Tatsächlich passte das alles genau ins Bild, das wir von unserer Protagonistin entworfen hatten. Wenn sie sich verletzlich und angreifbar fühlt, reagiert sie darauf mit Aggression statt mit Worten. Und am Ende entschuldigt sie sich dann und will alles am liebsten ungeschehen machen. Das scheint ein sehr typisches Borderline-Verhalten zu sein.“

Nun kann das hier beschriebene Verhalten im Zuge einer Borderline-Störung entwickelt worden sein – muss es aber nicht. Denn Autoaggressionen kommen bei Menschen mit einer instabilen Persönlichkeit sehr viel häufiger vor als Fremdaggressionen. Reue und Bedauern nach Gewaltausbrüchen sind zum Glück nicht ausschließlich Gefühle von Menschen mit einer Borderline-Diagnose. Vielmehr ist es als pathologisch zu bewerten, wenn solche Gefühle von Gewaltausübenden nicht empfunden werden können. Und aggressiv kann man auch allein mit Worten sein. Margaret hätte auch verbal gewalttätig werden können. Wozu dient also die Assoziation von physischer Gewalt mit einer Diagnose, die sehr vielfältige Ausprägungen haben kann und selbst von Fachkundigen nicht so einfach zu stellen ist? Weshalb greifen die Drehbuchautor*innen gerade auf das Borderline-Diagnosebild als Erklärung für Margarets Verhalten zurück? 

Der Film wurde nicht mit dem Anspruch geschrieben, über instabile Persönlichkeiten aufzuklären. Meier wollte die Figur nach eigener Aussage

„nicht reduzieren auf diese Diagnose oder ein vollständiges Bild des Krankheitsbildes auf die Leinwand bringen.“

Deshalb war es auch nicht notwendig, die Diagnose im Film zu nennen. Für den Teil der Zuschauenden, die nicht psychologisch geschult sind, ist sie gar nicht sichtbar. Der Bezug zur instabilen Persönlichkeit diente also wie schon im obigen Zitat beschrieben dazu, den Charakter erklärbarer und schlussendlich greifbarer zu machen. Doch werden damit nicht implizit die von Meier bislang genannten Ausnahmen der Darstellung gewaltaktiver Frauen in Filmen –  nämlich “Drogeneinfluss”, “aussichtslose Schwierigkeiten” oder “Hysterie” – um lediglich die Kategorie “Borderline” erweitert? Die Gefahr besteht jedenfalls darin, dass gewaltaktive Frauen weiter ein Tabu bleiben, wenn wieder nur eine bestimmte Gruppe von Frauen im Fokus steht, die per se schon gesellschaftlich stigmatisiert ist. 

Die gesellschaftliche Wahrnehmung von Menschen mit Borderline-Diagnose

Menschen mit einer instabilen Persönlichkeit werden manipulatives, riskantes, impulsives, aufmerksamkeitserhaschendes, auto-aggressives Verhalten sowie Beziehungsunfähigkeit zugeschrieben, was gerade in der Vergangenheit einschneidende Konsequenzen für Betroffene hatte. Vor Gericht galten sie deshalb als unglaubwürdig. Therapeut*innen und Personal aus psychiatrischen oder sozialen Einrichtungen nahmen sie häufig als besonders anstrengend und gruppenuntauglich wahr und zweifelten ihre Therapiefähigkeit an. Bis heute haben Betroffene zum Teil noch diesen Ruf in der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Dabei werden Symptome falsch interpretiert – z. B. intensives Bemühen um Nähe als manipulatives Verhalten; übersehen, dass die Symptome sehr vielfältig sind und nicht auf jede*n zutreffen – z.B. zeigt nicht jede*r selbstverletzendes Verhalten; und schließlich die Symptome unterschiedlich ausgeprägt sein können – z. B. können viele Betroffene durchaus stabile Beziehungen führen. 

Es verwundert wenig, dass sich Menschen mit einer instabilen Persönlichkeit immer noch selten outen. Ausnahmen sind Frauen wie die Autorin Jennifer Wrona oder die Unternehmerin Dominique de Marné. Sie verbindet die Ambition, über psychische Erkrankungen aufzuklären, mit Vorurteilen aufzuräumen und Anerkennung zu finden. Sie zeigen, dass Symptome mit therapeutischer Unterstützung beherrschbar werden bzw. auch ausklingen können. De Marné berichtet aus eigener Erfahrung:

„Früher kontrollierten meine Krankheiten mich, heute kontrolliere ich sie.“

Gerade weil Menschen mit einer Borderline-Diagnose ein wesentlich intensiveres Gefühlserleben haben als andere, haben sie das Potenzial, anderen einen bewussteren und konstruktiven Umgang mit Gefühlen aufzuzeigen. Jennifer Wrona schreibt in ihrem Buch „Konfettiregen im Kopf – Leben mit Borderline“ dazu:

„Aber Emotionen sind wohl die menschlichste Eigenschaft unseres Seins. Sie entstehen in unserem Gehirn und auch wenn wir diese nicht beeinflussen können, können wir beeinflussen, wie wir mit ihnen umgehen. Und das ist eigentlich die Antwort auf das große Geheimnis. Wir sind unseren Emotionen nicht hilflos ausgeliefert, wenn wir verstehen, woher sie kommen, wie sie sich anfühlen und wann sie wieder gehen. […] Ich habe gelernt, dass auf einen Impuls und eine Emotion auch erst eine Pause folgen darf. Dass ich alle Zeit der Welt habe, um meine Emotionen zu spüren, bevor ich reagiere. Ich habe gelernt, dass ich innehalten kann und darf. Ich habe gelernt, dass Emotionen endlich sind.“ (Wrona, S. 49f)

Die jungen Frauen leben vor, dass die Diagnose einer instabilen Persönlichkeit nicht im Desaster enden muss. Sie machen Hoffnung. Sie zeichnen ein anderes Bild als der Film „Die Linie“. 

Was wäre besser gewesen?

Arthouse-Filme müssen keinen aufklärerischen Charakter haben. Sie sollten aber Stigmatisierungen und Stereotypisierungen nicht weiter vorantreiben. Gewalthandeln darf nicht allein auf Krankheitsbilder reduziert werden, weil damit eine bestimmte Gruppe von Menschen pauschal vorverurteilt wird. Auch wenn der Film zugegebenermaßen die instabile Persönlichkeitsstruktur von Margaret nur andeutet und nicht konkret benennt, schwingt anhand der Darstellung mit, dass Margaret anders ist. Zwar wird der Charakter durchaus sympathisch gezeichnet, wenn Margaret am Rand der weißen Linie im Winter ihre Schwester im Gesang unterrichtet, jedoch wird sie durch ihr außergewöhnliches Verhalten als besonders gezeichnet. Damit bleibt Gewaltausübung von Frauen ein Verhalten außerhalb des gesellschaftlichen Mainstreams. 

Dass es anders gehen kann, wird zum Beispiel in Ulrich Seidls Film “Liebe” angedeutet: Die durchschnittsdeutsche Protagonistin versucht sich am Ende Sex von einem jungen einheimischen Kenianer zu erkaufen. Sie legt nicht nur eine rassistische Haltung an den Tag („Have you ever kissed a white lady?“), sondern akzeptiert nicht, dass der unerfahrene, junge Mann ihr signalisiert, dass er sie nicht im Genitalbereich küssen möchte. Sie übt zwar keine Gewalt aus, verhält sich aber grenzüberschreitend. Seidl hat sich entschieden, die frustrierte Protagonistin nicht weitergehen zu lassen, in der Phantasie ist dies aber durchaus denkbar. Denn Gewaltausübung ist kein Verhalten von Randgruppen, sondern findet in der Mitte der Gesellschaft statt.

Anstatt sich „einzulesen“ und mit Menschen zu sprechen, die über Verhaltensweisen „erzählt“ haben, hätte Meier auch Betroffene am Drehbuch miteinbeziehen können. Vielleicht hätte sie dann ganz andere Aspekte von Margarets Persönlichkeit herausstellen können, die die Distanz zu den Zuschauenden hätten überbrücken können. So wirkt der Film fast schon voyeuristisch und die weiße Linie kann metaphorisch als unüberwindbare Grenze zwischen Menschen mit und ohne psychischer Beeinträchtigung gelesen werden. Schade. 

 

Felicitas Klingler

Felicitas Klingler

SYSTEMISCHE THERAPEUTIN

Geschlechtersensibles Arbeiten in therapeutischen Kontexten halte ich für sinnvoll, weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass Geschlechtervorstellungen auf unser Verhalten und unsere Weltsicht großen Einfluss haben.

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