WER SAGT, DASS WIR BEZIEHUNG KÖNNEN?

Nov 24, 2023

Probleme in der partnerschaftlichen Beziehung

In meiner Arbeit mit Klient*innen werden immer wieder mal Probleme in der partnerschaftlichen Beziehung thematisiert: Partner*innen werden für die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse verantwortlich gemacht. In Konfliktsituationen geht es darum, wer recht hat. Bestimmte Dinge werden als selbstverständlich vorausgesetzt, gegen die der*die Partner*in verstößt, was zu Unmut und Konflikten führt.

Es scheint also bestimmte Gewissheiten zu geben, wie eine Beziehung geführt wird. Doch woher kommen diese?

Woher unser Wissen kommt …

Wie man sich ganz allgemein in Beziehungen verhält, lernen wir bereits im frühkindlichen Kontext ganz nebenbei. Bei den meisten Menschen ist die Familie das erste maßgebliche Vorbild sozialen Verhaltens. Sie lebt uns vor, wie gemeinsame Aufgaben verteilt werden, wer für die Erfüllung welcher Bedürfnisse verantwortlich ist, wie untereinander kommuniziert wird und wie Probleme gelöst oder aber auch nicht gelöst werden.

Mit zunehmendem Alter kommen eine Vielzahl neuer Kontexte hinzu, in denen wir partnerschaftliche Beziehungen aktiv praktizieren. Wir tauschen uns mit anderen darüber aus – insbesondere Freund*innen und Peergroups. Daneben profitieren wir von gesellschaftlich vermitteltem Wissen zum Beispiel aus der Schule. Dabei wird das Ganze stetig begleitet von Bildern, die uns die zahlreichen verfügbaren Medien zur Verfügung stellen bzw. die wir aktiv konsumieren. Vieles übernehmen wir intuitiv ohne groß darüber nachzudenken. Anderes lehnen wir bewusst ab, weil es nicht unseren Werten entspricht. Dadurch entsteht eine Vielfalt an Vorstellungen, wie Beziehung geht.

Beziehungen zwischen „frei“ und „unterdrückt“

Dass wir nicht gezielt lernen, wie man eine Beziehung führt, hat Vorteile: es macht uns flexibel und ermöglicht uns, unsere Beziehungen gemeinsam mit anderen entsprechend der individuellen Bedürfnisse zu formen.  

Gleichzeitig sind Beziehungen nicht notwendigerweise das Resultat liberaler Entscheidungen: Sie können sich ebenso – bewusst oder unbewusst – zu Zwangsverhältnissen entwickeln. Der Handlungsraum kann dann nicht (mehr) gleichberechtigt von allen Partner*innen gestaltet werden. Ungleiche Verteilung bei der Aushandlung von Beziehungen kann in Übergriffigkeit, toxischem Verhalten oder körperlicher Gewalt münden, was die Spitze eines Eisbergs von Beziehungen bildet, die Menschen einschränken, anstatt sie zu erfüllen und Freiheit zu schenken.

Dass wir also Beziehung unterschiedlich verstehen und (aus)leben, bedeutet, dass wir uns in unseren Partnerschaften irgendwo zwischen den Polen „frei“ und „unterdrückt“ bewegen.

Was nun?

Jährlich entstehen laut einer Studie des Europäischen Instituts für Gleichstellungsfragen (EIGE) 54 Milliarden Euro Folgekosten in Fällen häuslicher Gewalt in Deutschland. Das sind 148 Millionen pro Tag. Gemeint sind damit vor allem wirtschaftliche Ausfälle sowie Kosten für Gesundheit und Strafverfolgung. Nicht nur ökonomisch, sondern rein menschenrechtlich gibt es gute Gründe, ungesundem Beziehungsverhalten frühzeitig entgegenzusteuern. Denn wir alle profitieren von emanzipierten Beziehungen, weil sie uns den Raum geben, uns zu entfalten, selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen und unsere Bedürfnisse klar zu kommunizieren. Doch wo lässt sich ansetzen? Meiner Meinung nach sollten wir uns noch stärker mit den Problemzonen der oben genannten Lern- und Praxisräume für unsere Beziehungen beschäftigen. Denn an meinen Klient*innen bemerke ich, dass Gewissheiten aufgebrochen und neu ausgehandelt werden müssen. 

Felicitas Klingler

Felicitas Klingler

SYSTEMISCHE THERAPEUTIN

Geschlechtersensibles Arbeiten in therapeutischen Kontexten halte ich für sinnvoll, weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass Geschlechtervorstellungen auf unser Verhalten und unsere Weltsicht großen Einfluss haben.

Weitere Beiträge

VON BORDERLINER*INNEN UND ANDEREN LINIEN

Die Verknüpfung von Gewalt mit psychiatrischen Diagnosen ist leider immer noch weit verbreitet. Dies zeigt ein aktuelles Beispiel aus dem Programmkino.

FRAUEN, DIE (ZU-) SCHLAGEN

Weibliche Gewalt im häuslichen Umfeld erfährt aktuell immer mehr gesellschaftliche Aufmerksamkeit. Doch was wissen wir darüber wirklich? Wie können wir das Phänomen einschätzen?

DURCHGEDREHT

Viele Sprüche, Aussagen oder Zitate, die uns auf den ersten Blick plausibel erscheinen können ebenso dazu führen, dass wir uns dadurch selbst begrenzen. Auf meinem Blog findet ihr Gedanken und Beobachtungen aus meiner Arbeit als Systemische Therapeutin, die Glaubenssätze umkrempeln und neu betrachten.

LIEBE, DIE ENDEN DARF

Liebe wird in unserer Kultur vielfach als unbegrenzt und unendlich belastbar dargestellt. Doch was bedeutet das für Frauen, die Gewalt erfahren? Wohin kann eine solche Liebe führen? Was ist Liebe eigentlich und hat sie Grenzen?

DROGEN SIND NUR WAS FÜR STABILE TYPEN

Gesellschaftlich stellt sich der Konsum von Drogen häufig als persönliches Problem der Betroffenen dar. Sie werden als labil oder gar krank bezeichnet. In meinem Blogartikel erläutere ich aus systemischer Perspektive, weshalb Drogenkonsum nicht zwangsläufig auf eine labile Persönlichkeit zurückgeführt werden sollte.

VERZEIHEN

Verzeihen gilt allgemein als Tugend. Kaum jemand fragt danach, ob es auch sinnvoll sein kann, nicht zu verzeihen.

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert